Paris-Brest-Paris 2003


Prolog

Mit der Erfindung des Fahrrades im 19. Jahrhundert nahm die individuelle Mobilität ungeahnte Ausmaße an. Noch vor dem Aufkommen des Automobils schien sich dem menschlichen Drang nach Fortbewegung nichts mehr in den Weg stellen zu können: der Beweis wurde 1891 mit der ersten Nonstop-Radfernfahrt über 1200 Kilometer von Paris ins bretonische Brest und zurück angetreten, ungeachtet der Warnung der Ärzte, dass dieses Unterfangen so sicher wie eine Überdosis Arsen zum Tode führen würde.

Erstes Brevet: 200 Kilometer

Noch hatte ich keine von diesen sagenumwitterten Gestalten lebend gesehen: Randonneure, die mit dem Rad in weniger als neunzig Stunden 1200 Kilometer fahren, von Paris nach Brest und zurück. Ich hatte darüber gelesen und mich in diesen Strudel hineinziehen lassen, bis ich mich nicht mehr daraus befreien konnte. Und dann endlich war der Entschluss gereift, selbst zu einem dieser verwegenen Langstreckenfahrer zu werden, die keine Dunkelheit, keinen Regen, keine Einsamkeit, keinen Schlafentzug, keine noch so große Distanz fürchten.

Zweites Brevet: 300 Kilometer

Mit einem Mal läuft es. Plötzlich signalisiert dieses müde Bündel von Muskeln und Knochen, das bis vorhin nichts mehr verlangte, als endlich wieder in Ruhe gelassen zu werden, seine Kooperationsbereitschaft mit dem Kopf. Kurz nach dem Col d'Urbeis mit seinen 600 Metern Höhe ist es soweit: der Kreislauf, angeregt durch die Steigung und den Kaffee im Tal, hat Blut geleckt.

Drittes Brevet: 400 Kilometer

Der Mensch mag ein Gewohnheitstier sein, an Brevets gewöhnt er sich nicht so leicht. Nicht anders als bei den anderen Qualifikationen für P-B-P bin ich nervös, gespannt, was auf mich zukommt. Ich habe den Streckenplan zuhause studiert, mich mit suchendem Zeigefinger in die Michelin-Karten vertieft und versucht, die Schwierigkeiten zu erahnen.

Viertes Brevet: 600 Kilometer

Was für eine Nacht: Als wir nach 40-minütiger Autofahrt am Stade Peugeot ankommen, steht der Vollmond am wolkenlosen Himmel, es ist so warm, dass die Leuchtweste über dem kurzärmeligen Trikot fast schon zuviel des 400 kmGuten ist. Wir trinken noch einen schnellen Kaffee im Sportheim, obwohl die Anspannung vor dieser letzten Qualifikation über sechshundert Kilometer allein schon ausreicht, um den Kreislauf auf Trab zu halten.

Paris-Brest

"Einmal und nie wieder", höre ich den Fahrer neben mir mit tonloser Stimme stammeln. Durchgefroren bis aufs Mark, den stieren Blick auf die Straße geheftet, hängt er entkräftet auf seinem Rad, das ihn weiter zieht, weiter Richtung Paris, über den gewundenen Asphalt, den nur spärliches Scheinwerferlicht ausleuchtet. Es ist Donnerstag, ein, zwei Stunden nach Mitternacht, eine kalte Sternennacht bei 8° C, und das Feuer in den fünfzehn, zwanzig durchtrainierten Körpern rings um mich herum ist bis auf einen Rest von Glut heruntergebrannt, immer wieder aufs Neue angefacht von letzter Willenskraft, durchzuhalten bis zum nächsten Kontrollpunkt, knapp zweihundert Kilometer entfernt vom Ziel in Paris.

Brest-Paris

Nach gut vier Stunden oberflächlichem Schlaf spüre ich wie ich an der Schulter gerüttelt werde: 3.30 Uhr Zeit zum Aufstehen. Ich habe Kopfschmerzen. Das Sodbrennen, das mich gestern geplagt hat - verursacht von der Fruchtsäure der Riegel und des Energietrunks, vom Koffein, vielleicht auch vom Stress und dem Schlafmangel - hat dazu geführt, dass ich auf den letzten Etappe über 85 Kilometer keinen Schluck trinken konnte ohne Brechreiz, so dass ich heute morgen komplett dehydriert bin.