Himmel und Hölle
Samstag, 12. Juni 2004 Prad am Stilfser Joch - Tiefencastel
Punkt halb acht sitze ich am Frühstückstisch in einer gemütlichen Stube. Ich lobe den vorzüglichen Honig der Region, worauf meine Wirtin erzählt, dass ihr Mann früher selbst Imker war. Die Sprache der Südtiroler ist eigenartig - warm und guttural. Wenn sie sich untereinander unterhalten, verstehe ich nur wenig. Sie füllt den Brotkorb noch mal auf ("Sie haben doch bestimmt noch Hunger"), wir kommen auf das Stilfser Joch zu sprechen, sie bedauert den Motorradtourismus. Jeden Tag ein, zwei Tote. Die jungen Leut' kommen von so weit, nur um hier zu sterben...
Um 8:40 stehe ich abreisebereit an der Hauptstraße, wieder zwei Bananen in der Rückentasche, das muss reichen. Der Himmel hat etwas aufgeklart, zwischen den Wolken blitzt von Zeit zu Zeit die Sonne. Anfangs zieht sich die Straße gemächlich entlang des Wildbachs hin, die Steigung ist angenehm. Nur wenig Verkehr herrscht zu dieser Stunde. Allenthalben säumen Hotels und Pensionen die Auffahrt, ihre Aushängeschilder verheißen nichts Gutes: Bikers welcome! Noch sitzen diese in ihren Lederklamotten beim Capuccino auf den Terrassen, aber gegen halb zehn werden es mehr und mehr, die dröhnend himmelwärts donnern. Als ich die erste Serpentine (Nr. 48) erreiche, bin ich längst nicht mehr allein auf der Strecke. Ich fahre in einem gemäßigten Tempo, bedenkend dass es heute nicht bei diesem Pass bleibt. Im Grunde ist das Stilfser Joch herrlich zu fahren - keine extremen Steigungen, nur lang, endlose sechsundzwanzig Kilometer lang, ohne einen einzigen Moment des Ausruhens. Man muss einfach gleichmäßig treten und die einmalige Aussicht auf den Ortler genießen, in Gedanken eine Banane aus der Rückentasche zücken, um den einen oder anderen Heißsporn von seinem Motorrad zu schießen, weitertreten und allenfalls den Moment fürchten, wo man oben ankommt und der Rausch sein Ende findet. Achtundvierzig Kehren können lang sein, und wenn man an dem Punkt ankommt, wo sich die Serpentinenwand vor einem aufbaut, schluckt man unwillkürlich.
Die Horden der Motorradfahrer sind eine echte Pest. Ich versuche mich dadurch aufzuheitern, dass ich mir vorstelle, sie alle müssten morgens unten aufs Rad steigen, und erst wer oben ist, kriegt sein Mittagessen. Das wäre ein Spektakel! Manch einer, der nun seinen stattlichen Bauch hochchauffiert, wäre wahrscheinlich zum Skelett abgemagert, ehe er zum Essenfassen käme. Und ich versteige mich zu der Behauptung, dass auf diesem Pass keiner was zu suchen hat, der es nicht aus eigener Kraft hier hochschafft. Ich fürchte, mit dieser Forderung stehe ich allein auf weiter Flur, so allein, wie ich mich mit meinem Rad von Kehre zu Kehre durchbeiße.
Allerdings: Kurz nach dem Einstieg in die letzte Mauer höre ich ein gleichmäßiges Keuchen hinter mir, gerade als ich eine Banane zücke - zum Essen. Ein Fahrer, Ende zwanzig vielleicht, zieht an mir vorbei, schaut nicht links, nicht rechts, einfach nur gerade aus, und keucht wie eine Lokomotive. Das gefällt mir nicht. Schneller als geplant verteile ich die Banane gleichmäßig auf Mund und Speiseröhre und hänge mich an sein Hinterrad. Er beschleunigt, ich beschleunige. Ich überhole ihn, gewinne drei Meter, er fährt wieder ran. So fahren wir dann die letzten zwei, drei Kilometer. Kurz vor Schluss zieht er gleichauf - keiner möchte verpassen, wenn der andere zum Spurt ansetzt. Tatsächlich mir gebührt die Ehre, den Schlusssprint gewonnen zu haben, wenngleich er meine Zeit von 2:17 h sicherlich locker getoppt hat. Ich drehe eine Runde, fahre auf ihn zu und er reicht mir die Hand, wir lachen und quatschen eine Weile auf englisch. Er ist Tscheche und war mehr oder weniger für diesen Pass angereist. Ein italienisches Paar kommt von der anderen Seite hoch, sie sind erstaunt, dass der Pass überhaupt offen ist. Wir ziehen uns warm an, Beinlinge, Ärmlinge, Jacke. Hier oben ist man schneller ausgekühlt als einem lieb sein kann. Eigentlich wollte ich noch Postkarten schreiben, aber dieser Rummel auf 2757 m macht mich unruhig. Wir winken uns zum Abschied, dann übernimmt die Schwerkraft das Regiment.
Fünfzehnhundert Höhenmeter werden im Sekundentakt vernichtet.
Auf der Höhe von Nuovi Bagni drehe ich rechts ab, Richtung Valdidentro, entledige mich meiner Jacke und husche fünf vor zwölf in einen kleinen supermercato, besorge mir Kohlehydrate für die Weiterfahrt. Die Leute hier reden Italienisch und haben italienisches Temperament. Als ich dem Chef auf Nachfrage von meinem Plan erzähle, nach dem Stilfser Joch über den Passo di Foscagno weiterzufahren, schlägt er die Hände zusammen und eilt zu einem Freund vor den Laden, der bereits im Auto sitzt, wohl um ihm davon zu berichten. Ich fühle mich geschmeichelt, aber das Lachen friert mir ein, als ich hören muss, dass der folgende, aus dem Hochtal von Livigno herausführende Pass, der Forcola di Livigno, offensichtlich noch gesperrt sei. Sei's drum, zunächst ist Essen angesagt. Dazu fahre wieder hoch zur Landstraße in Richtung Valdidentro. Käsebrötchen kauend widme ich mich kurze Zeit später dem Kartenstudium und stelle fest, dass es auch eine Möglichkeit gibt, über den Norden das Tal zu verlassen. Irgendwie wird's schon hinhauen. Das italienische Pärchen vom Stilfser Joch zieht derweil in gleicher Richtung an mir vorbei.
Der Verkehr zum Passo di Foscagno ist vehement. Bis Valdidentro verläuft die Strecke flach, danach geht es in mäßiger Steigung, fünf bis sechs Prozent, bergan. Etliche Tunnels stellen sich in den Weg, hie und da empfiehlt sich der Gebrauch einer Lampe. Erst am Ende kommt der Klops, eine Zwölf-Prozent-Rampe, aber nach der ganzen Schinderei an diesem Tag kommt es darauf auch nicht mehr an. Kurz vor dem Gipfel kommen mir die beiden Italiener wieder entgegen und wir grüßen uns. Solche Frauenbeine lasse ich mir gefallen!
Am Grenzübergang frage ich den Zöllner vorsichtshalber, ob der Ponte del Gallo, ein etwa drei Kilometer langer Tunnel nordwärts, über den ich das Tal von Livigno nun zu verlassen gedenke, auf für Fahrräder offen ist - man weiß ja nie. Er fragt seinen Chef, dieser bejaht. Beruhigend.
Oben trinke ich einen Capuccino, fühle mich ziemlich erledigt. Bilanz: 80 km, 3000 Höhenmeter, Moral im Keller. Die Weiterfahrt durch den Tunnel scheint mir noch das einzig Zumutbare. Einer kurzen Abfahrt folgt ein neuerlicher, unerwarteter und umso schmerzhafter Anstieg, vielleicht nochmals gut Hundert Höhenmeter, im Finale fordern zehn Prozent Steigung einmal mehr Standvermögen. Livigno selbst, einige Kilometer talwärts, ist Zentrum einer zollfreien Zone. Es sind Schnäppchenjäger, die auf der Passstraße unterwegs sind.
Am Ortseingang das Schild: Forcola di Livigno - aperto, also: der Pass ist befahrbar. Kurze Bedenkzeit, dann fasse ich mir ein Herz und beschließe, ungeachtet meiner Willensschwäche den ursprünglichen Plan durchzuziehen.
Dafür werde ich belohnt. Die Straße folgt stetig ansteigend der Talsohle in Richtung Süden, schlängelt sich gemächlich nach oben. Die Vegetation wird spärlich. Der Verkehr hat deutlich abgenommen. Nach fünfhundert Höhenmetern grüßt von oben am Talschluss ein Rifugio, daneben ein Zollhäuschen. Ich weiß nicht, verlasse ich die Schweiz oder Italien. Es ist mir einerlei, denn der Blick von 2315 m a uf die andere Seite ist gigantisch: die Gletscher um den Piz Bernina und Piz Palü.
Nach drei Kilometern Abfahrt schließt sich die verhältnismäßig kurze Auffahrt zum Bernina-Pass an. Weite Kehren, traumhafte Aussichten, wenig Verkehr - ich habe das Gefühl, der Pass fährt sich von alleine. Alle Erschöpfung ist Schnee von gestern.
Oben herrscht eine steife Brise aus Westen vor. Wolkenfelder jagen über den Himmel. Ich ziehe mich warm an und kämpfe in der Abfahrt gegen den Wind an. Unterhalb des Lago Bianco kommt mir der Bernina-Express entgegen. Es ist schon eine verrückte Sache, über diese Höhen eine Zugverbindung von St. Moritz nach Italien hinunter auszubauen.
Ich halte auf Samedan zu, lasse St. Moritz links liegen, folge dem ausgewiesenen Radweg dem Inntal entlang. Spätestens in Bever wird mir klar, dass ich in der Schweiz bin: längst sind meine Energiespeicher leer gefahren, und als ich in Bever vor einem Lebensmittelgeschäft Halt mache, wird mir bewusst: erstens, es ist Samstagnachmittag, 18 Uhr - und zweitens, der Ladenschluss in der Schweiz ist nicht wie in Italien. Ein ansprechendes, geschweige denn geöffnetes Lokal sehe ich nicht, also fahre ich hungrig weiter. Mein Ärger wächst, als auch noch der Radweg zur Schotterpiste wird. Ich denke kurz daran, umzudrehen, hoffe dann aber, dass meine Pneus auch diese Strecke überleben.
Dass die Schweiz nicht zu den Billigurlaubsländern gehört, zeigt sich in La Punt, am Fuß des Albula-Passes: eine einfache Pizza mit Apfelschorle erleichtert mich um 18.- SFr. Vorausschauend bezahle ich mit Kleingeld. Außer mir sitzt kein Gast auf der Terrasse, der Ort wirkt ziemlich ausgestorben. Ich überlege, wie ich weiter vorgehe. Mein Radcomputer zeigt sieben Uhr an, mir bleiben also zweieinhalb Stunden Tageslicht. Das müsste reichen für den Albula. Dicke Gewitterwolken hängen über dem Bergrücken, oben sieht es nach Regen aus. In dem Moment, wo ich wieder aufsitze, verschwindet die Sonne. Wenige Minuten danach setzt der Regen ein, zuerst als sanftes Nieseln, später als heftige Schauer. Etwas unheimlich ist mir schon, bei diesem Wetter noch einmal auf 2300 m hochzufahren. Die Einsamkeit ist fast bedrückend, nur alle fünf oder zehn Minuten passiert mich ein Auto mit eingeschalteten Scheinwerfern. Von La Punt aus geht es neun Kilometern bergan, bei 650 Höhenmetern. Gefällige Steigungsprozente. Als ich nass genug bin, bin ich fast verzückt von diesem Abenteuer. Dichte Nebelschwaden, Nässe, Kälte, Gegenwind, absolute Ruhe, nur der Rhythmus der Beine und das Zischen der Reifen auf dem nassen Asphalt. Wenn die Wolkenfetzen sich gelegentlich verziehen, tauchen dahinter die Schneefelder auf oder der brodelnde Wildbach. Immer wieder wische ich mir den Regen aus dem Gesicht. Kurz vor dem Sattel ist die Straße zur Hälfte überschwemmt, die Seen links und rechts verlieren sich im Nebel. Was für ein grandioses Spektakel!
Oben atme ich durch, genieße ausgiebig die perfekte Stille und die Einsamkeit. So ähnlich, nur etwas wärmer, stellte ich mir in meiner kindlichen Phantasie den Himmel vor: ein Gemenge von Nebelschwaden, Seen, Schnee, einsamen Wiesen. Mir schaudert, vor Kälte und irgendwie auch vor Glück.
Es ist etwa acht Uhr, die Temperatur liegt bei fünf Grad, ich ziehe mir alles über, was ich habe. Zunächst ist die Kälte erträglich, dann werden die Finger so klamm, dass ich immer wieder anhalten muss, um sie zu wärmen. Die Zähne beginnen zu klappern, der eisige Fahrtwind entzieht mir den letzten Rest Wärme, bald schon zittert mein ganzer Körper. So jage ich nach unten, ein von der Kälte durchgeschütteltes Häufchen Elend. Es sind die schrecklichsten Momente meiner Tour. Daran ändert auch nichts die herrliche Gebirgslandschaft, die malerische Passstraße im letzten Licht des Tages. Ich bin durchgefroren bis aufs Mark, hoffe nur, dass diese Tortur bald ein Ende hat.
Um Viertel nach neun finde ich in Surava, kurz vor Tiefencastel, nach über zwanzig Kilometern Schüttelfrost ein Hotel für die Nacht, nachdem ein Hotelier weiter oben mir indirekt zu verstehen gegeben hatte, dass eine Jammergestalt wie ich nicht zu seinem Etablissement passe. Das Hotel hier ist sauber, der Wirt zuvorkommend. Selten bin ich so lange unter der Dusche gestanden wie an diesem Abend, selten habe ich mich so auf ein warmes Bett gefreut.
In der Nacht wache ich auf, dehydriert und unerträglich hungrig - ich hatte am Abend ganz vergessen, noch etwas zu essen. Es werden lange, schlaflose Stunden, bis endlich der Morgen und damit die Aussicht auf ein Frühstücksbuffet anbricht.
Strecke |
169 km |
Fahrzeit |
9:35 h |
Schnitt |
17,5 km/h |
Höhenmeter |
4435 |