Freitag, 8. Juli 2011
| Strecke |
Weit nach Mitternacht hat der Regen nachgelassen und ich bin nochmals aufgestanden, um meine Zähne zu putzen und mein Rad abzuschließen. Am Morgen wird mir dann klar, dass meine Vorgehensweise, es an einen kräftigen Ast des Gebüsches anzuschließen, ein schlauer Zug war. Der Schlüssel nämlich bleibt unauffindbar. So zerlege ich unter kontrollierter Gewaltanwendung den Ast und fixiere mein Schloss mit Kabelbindern am Rahmen, um ein Pendeln am Oberrohr zu verhindern. Meine frisch gewaschenen Klamotten sind noch klatschnass vom Gewitter. Es kostet mich Überwindung, mir die Radhose überzustreifen.
Wieder stehle ich mich zeitig davon, diesmal als Zechpreller, denn die Rezeption öffnet nicht vor neun Uhr. Bis dahin möchte ich den Rhône längst überquert haben. Wenn sich heute die Gelegenheit bietet, Gutes zu tun, will ich nicht zögern, meine Schuld abzutragen. Zunächst aber bietet sich die Gelegenheit, einen kräftigen Fluch auszustoßen. Mein Weg nach Serrière im Flusstal führt nach meinem Plan über die N 82. Wie gelegentlich in Frankreich zu beobachten, ist die Zufahrt für Räder jedoch kommentarlos gesperrt. Kein Hinweisschild, nichts. Ob die Verkehrsplaner dem Radfahrer mehr Spürsinn als dem Autofahrer zutrauen oder ob ihnen sein Verbleib einfach vollkommen egal ist, sei dahingestellt. Bei zwei Alternativstrecken beträgt die Chance auf die richtige Wahl 50 Prozent. Ich habe Glück.
Unter mir taucht das Rhônetal auf. Morgennebel wabern über dem Flusslauf, darüber spannt sich ein strahlend blauer Himmel. Das versöhnt mich etwas mit dem Widrigkeiten des Tagesbeginns. Ein herber Rückschlag erfolgt nach der Überquerung des Rhône. Statt eines Milchkaffees serviert mir der Wirt schwarzen Kaffee, was ich zum Croissant nun mal nicht schätze.
Meiner Reklamation kommt das Schlitzohr mit einem Hauch von Milchschaum nach, den er hinter seiner Theke darübergießt. Damit ist die Sache für ihn erledigt. Ich hingegen werde ihn lebenslang in schlechter Erinnerung behalten. Das hat er davon.
Die Wegfindung sollte mir heute weniger Schwierigkeiten machen als gestern. Nach meinem missglückten Frühstück lautet die Parole des Vormittags, die D 51 zu verfolgen und zufrieden zu sein. Die Landschaften sind gefällig, allenfalls leicht hügelig. Anders als im Süden der Ardèche, wo noch viel Wein angebaut wird, ist hier Mais- oder Getreideanbau vorherrschend. Das reichhaltige Nahrungsangebot auf den Feldern kontrastiert auffällig mit dem Nahrungsangebot entlang der Straße. Bis zum Mittag finde ich vom frühen Morgen weg nicht ein Geschäft, das Essbares oder Trinkbares anbietet. Außer Autoreparaturwerkstätten und kleineren Handwerksbetrieben liegen nur Bauernhöfe am Wegesrand. Auf 90 Kilometern finde ich lediglich eine kleine Dorfmetzgerei, wo ich als Vegetarier einen Verzweiflungskauf mache: eine Flasche Wasser und ein Stück Brot.
In La-Tour-du-Pin schließt der Supermarkt im Zentrum im Augenblick meines Eintreffens. Ich entscheide mich für eine Mahlzeit in einem Bistrot, was in der fleischlosen Variante alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Mir wird ein reizend kleiner Teller Nudeln an Gemüse vorgesetzt. Dazu plätschert unaufhörlich eine alberne Quizsendung aus dem Lautsprecher neben meinem Tisch. Alles in allem recht erbaulich. Immerhin erfahre ich so aus den Dreizehn-Uhr-Nachrichten, dass die Zahl der Unfälle auf den Straßen Frankreichs im Jahresvergleich für den Monat Juni zugenommen hat. Außerdem würden landesweit ein paar neue Radarfahrzeuge in Betrieb genommen werden. Die Autofahrer werden bei dieser Mitteilung sicherlich vor Schreck erstarren. Immerhin soll das Wetter noch bis morgen halten. Die Rechnung ist saftig. Ich habe es unterlassen nachzufragen, gehe aber davon aus, dass der Wirt und Koch für den Radiogenuss einen Extrazuschlag erhoben hat. Zum Kassieren schickt er im Übrigen seinen geistig minderbegabten Sohn an meinen Tisch und kommt erst nach draußen, als er feststellen muss, dass dieser mit zehn Euro offensichtlich entschieden zu wenig Geld eingetrieben hat.
Hatte ich den ganzen Vormittag über Gegenwind, entspannt sich die Lage nun deutlich, umso mehr, wie ich auf die voie verte komme, ein Radweg von Genf nach Lyon, der in Teilen bereits fertiggestellt ist. Gerne nehme ich Umwege in Kauf, um den heftigen Verkehr insbesondere rund um Culoz zu entlasten und aktiv dazu beizutragen, die Zahl der Unfallopfer in Frankreich zu senken. Ich bin vom frühen Morgen ja auch noch eine gute Tat schuldig.
So rolle ich also auf Dutzenden von Kilometern über teils verschlungene Wege fast verkehrsfrei den Rhône entlang. Es ist eine Wohltat. Ab Seyssel halte ich Ausschau nach einem Campingplatz. Die 180 Kilometern stehen kurz vor der Vollendung. In Billiat finde ich zwar keinen solchen, kaufe aber in freudiger Erwartung schon mal in einem kleinen Supermarkt prophylaktisch das Nötigste für den Abend ein. Eine böse Enttäuschung erwartet mich allerdings, als ich mich nach dem nächsten Ort erkundige, wo ich mein Zelt aufstellen könne. Wenn ich nicht zurückfahren wolle, würden mir dreißig Kilometer bevorstehen mit einem Vorgeschmack aufs Hochjura. Zurückfahren kommt natürlich nicht in Frage. Ich ziehe mein Feierabendbier vor, um es nicht ins Gebirge schleppen zu müssen. Dann mache ich mich wieder auf den Weg.
In Champfromier, fünfundzwanzig Kilometer später, finde ich einen der schönsten Zeltplätze vor, auf die ich in meiner langjährigen Laufbahn als Camper gestoßen bin. Schlicht und sauber, mit herrlicher Sicht auf die Berge rundum. Kaum Wohnmobile. Und ein Preis, der mir fast die Schamesröte ins Gesicht treibt.
Ein Pärchen aus dem Breisgau mit seinen zwei Motorrädern hat sein Zelt in meiner Nähe aufgeschlagen, aber mir verlangt nicht nach einer weitergehenden Kontaktaufnahme und auch sie lassen mich ungestört. Ich beschlagnahme die Picknickbank am Rande des Platzes und habe zum ersten Mal die tiefe Genugtuung, das Reisen zu genießen.
Strecke: |
206 km |
Zeit: |
9:18 h |
Schnitt: |
22,1 km/h |
Höhendifferenz: |
1670 m |