Montag/Dienstag, 20./21. August, 20.15 Uhr
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Guyancourt/St.-Quentin-en-Yvelines, 20.15 Uhr: Schritt für Schritt rücken wir nach vorn, bis der Start nur noch wenige Dutzend Meter vor uns liegt. Kontrolleure kreisen durchs Feld, weisen uns an, die Lichter anzumachen. Nervosität liegt in der Luft. Vor einer halben Stunde habe ich, in der Warteschlange stehend, noch meine linke Schuhplatte nachjustiert, nun merke ich, dass das rechte Pedal mit der neuen Platte nur mit viel Kraft auslöst. Ich krame in meinem Lenkerbeutel nach einem passenden Inbus, nichts zu finden und nur noch wenige Minuten bis zum Start, ich drehe den Fuß aus dem Pedal heraus ein paar Mal nach außen, nichts zu machen, die Auslösehärte ist zu hoch, ich spüre die Spannung bis im Knie. Dann geht ein Ruck durchs Feld, es fällt ein Schuss, Applaus hebt an, die Schleusen öffnen sich. Tausendfaches Klicken der Pedale, wir passieren den großen Bogen mit der Aufschrift 16. Paris-Brest-Paris und in diesem Moment, davon bin ich überzeugt, ist jeder von uns entschlossen, alles zu geben, um diese zwölfhundert Kilometer hinter sich zu bringen. Nach langen Monaten der Vorbereitung und des Wartens ist es soweit: wir sind unterwegs!
5254 Teilnehmer aus 42 Ländern haben sich für die 16. Austragung von PBP eingeschrieben, davon starten 1362 mit uns in der 80-Stunden-Gruppe zwischen 20 Uhr und 20.30 Uhr. Nach uns, ab 21 Uhr, starten die Tandems und Spezialräder, dann die 90-Stunden-Gruppe; morgens um 5 Uhr ist dann der letzte Start für die 84-Stunden-Gruppe. Als wir Viertel nach acht durch die Spaliere der Zuschauer gleiten, ist der Applaus noch frisch und enthusiastisch und jagt mir Schauer über den Rücken. Dreißig Stundenkilometer lässt das vorausfahrende Fahrzeug zu, das ist vernünftig: Gedränge gibt es auch so genügend. Nach einer halben Stunde etwa sind wir uns selbst überlassen.
Einmal mehr mache ich mich mit Axel Wellpott auf den Weg, nachdem wir bereits im Jahre 2003 für die 15. Austragung zusammen angetreten waren. Urban Hilpert, der mit mir die Brevets bestritten hat, hat sich für die 90-Stunden-Gruppe eingeschrieben, aber für mich gibt es keinen Zweifel daran, dass er im Verlauf des Rennens, das im eigentlichen Sinne kein Rennen, sondern eine "Prüfung" ist, auf uns auffahren wird.
Bis zur ersten Kontrollstelle in Mortagne, nach 140 Kilometern, ist es ein gutes Stück Weg. Unter dem wolkenverhangenen Himmel nimmt das Tageslicht rapide ab, rote Rücklichter flackern wie blinkende Fischschwärme in den Tiefen des Meeres. In meist großen Gruppen rauschen wir durch die Nacht, die ich schätze wegen ihrer Stille und fürchte wegen der plötzlichen Müdigkeit. Aber noch ist der Adrenalinpegel hoch genug, um jeden Gedanken an Schlaf zu vertreiben.
Mortagne-au-Perche, 01.00 Uhr: Zahlreiche Zuschauer erwarten uns hier, klatschen, feuern uns an: Allez, allez! Bon courage! Dieses Bon courage! ist sicher das meist gesprochene Wort auf der ganzen Strecke. Es gibt keine deutschte Entsprechung für diese Aufforderung, nicht zu verzagen. Le courage: der Mut, die Tapferkeit.
An der Kontrollstelle geht alles sehr schnell. Chipkarte durchziehen, Flaschen füllen, Toilettengang, schnell noch ein Sandwich aus dem Lenkerbeutel zwischen die Zähne gesteckt, weiter. Ich habe ein Maximum an Proviant eingesteckt, um die Zeit an den Verpflegungsstellen zu verkürzen: Brote, Kekse, Riegel, Müsliballen, Bananen und Maltodextrin für die Trinkflasche. In den Gruppen, die sich nun wieder neu formieren, herrscht eine hohe Fluktuation. Immer wieder fahren wir auf Grüppchen auf, die aus dem ersten Startblock stammen, verleiben sie uns ein, während wieder andere hinten rausfallen oder andere Grüppchen an uns vorüberziehen. Wer ganz vorn im Wind fährt, bleibt mir verborgen: wir sind in unserer Position damit beschäftigt, Löcher zuzufahren. Vielleicht gibt es auch kein eindeutiges Vorn: Kaum glaubt man sich an der Spitze, rollt man schon auf den nächsten Trupp zu, alles formiert sich neu, ein Lichtergemenge, Schatten auf der Straße, gewagte Überholmanöver, Ausscheren nach links oder rechts, Rufen, Bremsen. Wer hier nicht alle Sinne beinander hat, lebt gefährlich.
Villaines-la-Juhel, 4.10 Uhr. 222 Kilometer sind geschafft. An der Theke bestelle ich mir schwarzen Kaffee gegen den Entzug - ich habe seit gestern früh nur ein kleines Tässchen Kaffee getrunken - und danach einen Becher Tee, den ich aber aus Zeitgründen in die Trinkflasche schütte. Just als wir erneut starten wollen, beginnt der Regen, zuerst fein, dann heftig. So war es uns vorausgesagt. Ich bin froh, dass er nicht während der Etappe einsetzt, weil man dann meist so lange zögert, die Jacke anzuziehen, bis man bis auf die Haut durchnässt ist. Zwanzig Minuten nach Ankunft sitzen wir wieder auf dem Rad, bahnen uns den Weg durch die nächtlichen Schauer. Die Temperaturen sind erträglich, deutlich über zehn Grad.
Der Regen bleibt uns weitgehend erhalten, selbst wenn die Morgendämmerung einen kurzen Hoffnungsschimmer auf trockenes Wetter aufkommen lässt. War der Wind in der Nacht recht wechselhaft, so hatte er sich nun für eine feste Richtung entschieden: konstant bläst er uns von Nord bis Nordwest ins Gesicht, meist von schräg vorn, so dass eine Gruppenbildung extrem erschwert wird, da man nur seitlich versetzt fahren kann, um sich im Windschatten aufzuhalten, was wiederum durch die meist schmalen Straßen eingeschränkt wird. Es finden sich weiterhin keine stabilen Gruppen, und ich bin sehr zufrieden, wenigstens mit Axel so etwas wie den Kern einer Gruppe zu bilden, um den verschiedene Elemente kreisen.
Fougères, 7.41 Uhr - Kilometer 300. Diese Ankunft ist mir in doppelter Hinsicht wichtig: erstens weiß ich damit die Hälfte des Hinwegs hinter mir und zweitens hatte ich hier vor vier Jahren den ersten Tiefpunkt erreicht. Nichts davon in diesem Jahr. Es ist kurz vor acht Uhr und ich fühle mich frisch und ausgeruht, als wäre ich eben erst aufs Rad gestiegen. Ob dies am Tee liegt? Ich besorge mir gleich noch einen Becher am Büfett. Ansonsten gibt's hier nur Schinkenbrötchen, was nun gar nicht mein Fall ist, so dass ich gezwungen bin, die letzten Reste aus meinem Lenkerbeutel zu kramen.
Zu zweit schwingen wir uns wieder in den Sattel, aber bald schon reiten wieder etliche Musketiere an unserer Seite. Regen und Wind sind unsere Begleiter - nein, unsere Gegner. Diesmal warten schlappe 55 Kilometer auf uns bis zur nächsten Kontrolle. Nichts was einen echten Randonneur beeindrucken könnte, wäre da nicht... ja, wäre da nicht dieser Schmerz im rechten Knie, sobald ich das Bein belaste. Im Wiegetritt bin ich schmerzfrei, also fahre ich, wann immer es geht, im Stehen. Ich sehe den Zusammenhang mit der Auslösehärte des Pedals und versuche mir anzugewöhnen, den Fuß beim Ausklicken nach innen zu drehen. Sollte ich diesmal auf der Strecke bleiben? Die meisten Abbrüche liegen, so ist immer wieder zu hören, an Knieschmerzen. Mir ist etwas mulmig zumute und ich ziehe es vor, mich für diesmal etwas weiter hinten im Feld zu positionieren. Aber immer wieder kommen neue Hügel, an denen die Gruppen oft auseinanderbrechen, und es bleibt nichts anderes übrig, als reinzuhauen, um mit der Vorhut oben zu sein. Während es bei anderen Touren meist so ist, dass man aufeinander wartet, sind diesmal wegen des Seitenwindes die Zusammenschlüsse so kurz, dass jeder Gruppenzusammenhalt schon am nächtsten Berg zusammenbrechen kann.
Tinténiac, 10.16 Uhr. Bei Kilometer 364 nehme ich mir die Zeit, zur medizinischen Betreuung zu gehen, in der Hoffnung auf ein entzündungshemmendes Medikament für mein Knie. Der Verantwortliche macht allerhand Verrenkungen mit meinem rechten Bein, bis ich irgendwann einen Schmerzschrei loslasse, was ihn freut, denn nun ist er sich sicher, dass er es mit einer Kreuzbanddistorsion zu tun hat. Er empfiehlt mir ebenfalls, mit dem Fuß nach innen auszuklicken. Wirksame Salben oder Tabletten kann er mir jedoch nicht anbieten. Immerhin weiß ich nun, woran ich bin, wenngleich das Damoklesschwert weiter über mir hängt. Wieder bekomme ich am Imbissstand kein Käsebaguette, und der Weg ins Restaurant ist mir zu langwierig. Frankreich ist in vegetarischen Dingen bisweilen auf dem Stand eines Entwicklungslandes. So nehme ich mir ein Stück Kuchen, Obst und wieder Tee. Wenn das alles mal gut geht...
Und wieder der Blick durch die beschlagene Brille in die sattgrüne Regenlandschaft. Längst ist alles durchnässt an mir, entweder durch eindringenden Regen oder durch Schweiß, der keinen Weg nach außen findet. Aber mir ist warm, das ist das Einzige, was zählt. In meiner Erinnerung hatte ich in die Strecke lange Flachstücke eingebaut. Wie trügerisch! Ich versuche, die Mitfahrer zu taxieren, ihre Herkunft anhand der Trikots oder Fahradrahmen zu bestimmen. Viele tragen die nationale Audaxkleidung und sind leicht zuzuordnen, bei anderen bin ich auf Mutmaßungen angewiesen. Reden kostet mich viel Energie. Anderen scheint es genauso zu gehen. An den unmöglichsten Stellen stehen Zuschauer mit aufgespannten Schirmen, manchmal selbst auf freiem Feld. Ist es die Begeisterung für unser Tun oder einfach nur Mitleid?
Loudéac, 14.05 Uhr. Ein breites Angebot an Speisen wartet hier auf uns. Ich bin sehr wählerisch; bisher hat mein Magen gegen die Anstrengung nicht rebelliert und ich lege großen Wert darauf, dass dies so bleibt. Also: nicht viel Fett, nicht viel Zucker, keine Cola, keinen Kaffee. Am besten Kohlehydrate und Eiweiß ohne viel Schnickschnack - und Tee. Schwarztee ist meine Wunderdroge. Als Nachtisch eine Tablette gegen Sodbrennen. Im Grunde verläuft alles perfekt, trotz der extremen Wetterbedingungen. Ich bin zufrieden. Am Nebentisch sitzt wieder der Kanadier mit der Startnummer 1818, neben dem wir bereits in Loudéac am Tisch saßen. Er ist mit einem Stahlrahmen im Retrolook unterwegs. Später muss ich erfahren, dass die Etappe nach Brest seine letzte ist: der Regen hat seine Lederschuhe dermaßen aufgeweicht, dass ihm die Schmerzen in den Füßen unerträglich werden. Es ist sein erstes PBP; seine Frau fährt hier bereits zum vierten Mal.
Die Strecke ist wie geschaffen für unsere Zwecke: kleine Straßen mit wenig Verkehr, hinzu kommt die perfekte Ausschilderung. Der Organisationsaufwand dafür muss riesig sein. Von Loudéac nach Carhaix ist es ein einziges Auf und Ab. Wir bewegen uns in einer kleinen Gruppe von vielleicht zehn Leuten. Mit uns ein Amerikaner aus Oregon, der an jedem Berg attackiert wie ein Verrückter bis ihm die Puste ausgeht und ihn das Feld wieder überrollt. Dann gibt er ein paar Minuten Ruhe, bis das Spiel von vorn beginnt. Die Grundzüge des Radsports hat er offensichtlich noch nicht begriffen.
Carhaix-Plouguer, 18.09 Uhr. Noch 90 Kilometer bis nach Brest. Am Kontrollpunkt ist es noch ziemlich ruhig, es sind wohl kaum mehr als 250 Fahrer vor uns. Heute nacht wird hier der Teufel los sein, wenn sich die verschiedenen Gruppen auf der Hin- und Rückfahrt begegnen. Eine gute Dreiviertelstunde verbringen wir am Kontrollpunkt mit Stempeln, Essen, Flaschen präparieren, und all den Kleinigkeiten, die viel Zeit in Anspruch nehmen. Mein Knie hat sich nicht verbessert, aber auch nicht verschlimmert. Bis Brest werde ich es in jedem Fall schaffen und dann lasse ich erst einmal den Rollladen runter.
Brest: wie oft geht mir dieses eine Wort durch den Kopf. Brest - gelobtes Land, Paradies, ewige Ruhe. Es hat seit geraumer Zeit aufgehört zu regnen, meine Regenjacke ist endlich wieder dort, wo sie hingehört: im Lenkerbeutel. Während einer Pipi-Pause kommt uns die Spitzengruppe entgegen: Jacques Raugel, unser Brevet-Mitstreiter aus Strasburg, ist mit von der Partie! Ich erkenne ihn erst, als er mir über die Straße hinweg winkt, und freue mich riesig für ihn, dass sein Projekt, mit den Besten mitzuhalten, erfolgreich zu verlaufen scheint.
Der Roc'h Trévézel genießt, als höchste Erhebung der Bretagne, bei den Wiederholungstätern Respekt, ist aber nicht schlimmer als die ganzen anderen Hügel entlang der Strecke. Was ihn hervorhebt, ist die Sicht von oben: Ich meine, einen kurzen Blick aufs Meer zu erhaschen und gebe mich der Illusion hin, dass Brest nur noch einen Steinwurf entfernt ist. Unabhängig davon fühle ich mich gut. Die Beine sind willig, den ganzen Tag über hatte ich nicht das geringste Schlafbedürfnis. Die letzten 50 Kilometer bis zur Wende sind zäh. Aber wie ein Magnet zieht uns die Stadt an, und als wir uns endlich auf der Albert-Louppe-Brücke in den Wind stemmen und das Auge triumphierend über den nächtlichen Atlantik schweift, sind auch die letzten sieben Kilometer im Geist bereits absolviert.
Brest, 22.20 Uhr. Es herrscht großes Gedränge an der Kontrollstelle. Presse, Funktionäre, Zuschauer, Helfer, Betreuer, alles wirbelt durcheinander. Axel, dem Anlass entsprechend gekleidet, bleibt mit seinem Trikot nicht unbemerkt und ehe es an den Tresen geht, muss er noch fürs Fotoshooting herhalten. Dann endlich gibt's etwas zu essen und ein frisch gezapftes Bier und einen kurzen Moment der Ruhe. Axel geht duschen, ich habe heute für meine Begriffe soviel Wasser abbekommen, dass mir der Sinn nicht nach weiterer Berieselung steht, sei es warm oder kalt.Ich will nur dasitzen, innehalten, die Beine ausstrecken. Eine Stunde später tragen wir am Eingang des Schlafsaals auf dem Formular unsere Weckzeit ein: halb drei. Drei Stunden Schlaf.
Strecke: |
626 km |
Fahrzeit: |
22:30 h |
Schnitt: |
27,8 km/h |
Gesamtzeit: |
26:05 h |
Höhenmeter: |
4696 |