Freiburg - Col de la Croix de la Serra
Montag, 6. September 2004
Wie kommt ein Radfahrer aus Freiburg dazu, nachts um zehn im Stockdunkeln auf den Col de la Croix de la Serra hochzufahren? Diese Frage habe ich bereits storniert, während sich mein Untersatz Umdrehung für Umdrehung höher schraubt. Ein umständlicher Name: Col de la Croix de la Serra. Hätte mich gestern jemand gefragt, wo diese Käseglocke steht, ich hätte ahnungslos mit den Schultern gezuckt. Nun weiß ich immerhin, dass dieser Pass von St. Claude aus in Richtung Süden führt, parallel zur Südspitze des Genfer Sees und wohl 50 km westlich davon. Und dass es hier in mondlosen Nächten genauso dunkel ist wie woanders. Soviel zur Gegenwart.
Geschichte ist bereits mein Aufbruch heute früh um fünf bei klarem Sternenhimmel, ebenso wie die 345 km, die zwischen meinem Frühstückstisch mit dem dampfenden Milchkaffee liegen und dem Abzweig nach Bouchoux, der jetzt im Lichtkegel auftaucht. Noch zwei Kilometer bis zum Gipfel.
Geschichte sind auch die endlosen Asphaltbänder, die sich heute aneinander reihten und viel zu viele Erinnerungen wachriefen. Die Fahrt bis Mulhouse: meine erste Nachtfahrt mit Axel auf dem Weg zum ersten Brevet, dem Beginn der Langstrecken-Manie. Der Rhein-Rhône-Kanal: wie oft bin ich mittlerweile hier gefahren, auf dem Weg nach Süden? Ein Picknick-Bank versetzt mir einen Stich in die Magengegend: war es nicht schön damals, an dieser Stelle zu Mittag zu essen? Ich rase vorbei, allein, verfahre mich in Montbéliard, wie vor Jahren mit Bertram auf dem Weg nach Bordeaux. Clerval: der Campingplatz am Ufer des Doubs - einst saß ich hier mit meiner Frau in trauter Zweisamkeit bei Spaghetti und Rotwein, mit hundertsiebzig Kilometern in den Beinen und glücklich. The simple things in life...
Mein erster Gedanke beim Losfahren war: was hast du dir da nur eingebrockt? Wie ein Croissant stand die feine Sichel des Mondes am Himmel und um mich zu motivieren nahm ich mir vor, auf irgendeiner sonnigen Caféterrasse einen Stopp einzulegen für einen französischen Milchkaffee und Croissants. Das ist ungefähr so, als hielte man einem Esel mit einer Rute eine Möhre vors Maul, die er nie erwischt, und wenn er sich noch so anstrengt. Natürlich habe ich keinen Stopp eingelegt.
Wie ein bockiger Esel scheue ich an mancher Kreuzung: soll ich wirklich weiter fahren, südwärts, immer weiter fort von zuhause, wo nun auch die Sonne die Terrasse in goldenes Spätsommerlicht hüllt? Ketzerei...
Welche Gelassenheit doch der Doubs ausstrahlt, der sich träge in seinem Bett dahinwälzt! Meine Gedanken springen vor und zurück, treffen unentwegt auf Punkte, an denen Erinnerungen kleben. Straßen, Dörfer, Hügel Wälder: Kulissen für kleine Geschichten aus der Vergangenheit. Trotz stahlblauen Himmels, trotz sommerlicher Temperaturen, trotz der malerischen Landschaft des Jura: ich bin nicht, wo ich sein möchte; die Gegenwart wird zu einem Kloß, an dem ich schwer zu schlucken habe.
Ornans, das Ziel der ersten gemeinsamen Radtour mit meiner Frau. Vergeblich suche ich, mittags um halb zwei, nach einem offenen Geschäft. Das Städtchen döst in der Mittagshitze von sich hin. Unbemerkt wie ein Schatten husche ich durch. Ich kämpfe gegen den aufkommenden Hunger und die Schwermut an - und gegen die Schwerkraft im Anstieg aus dem Tal der Loue, halte durch, diesmal alleine. Die Herbstsonne tröstet, aber Gesellschaft leistet sie keine. In Levier, vierzig Kilometer später, finde ich endlich ein offenes Geschäft, um das Loch in meinem Magen zu stopfen. Es ist 15 Uhr, die 200-km-Marke ist längst überschritten. Nozeroy, dieses schmucke Dörfchen in der Spätnachmittagsonne, lasse ich hinter mir, mitsamt den Erinnerungen daran, mein Blick streift Kilometer später einen idyllischen Rastplatz am Ende von Les Planches, ehe es links ab geht, hoch nach Foncine-le-Bas. Eine einsame Gegend hier, rund um den Lac des Rouges Truites. Nicht ein Radfahrer weit und breit, mit dem man ein Stück des Weges teilen könnte.
Ab St. Laurent beginnt Neuland für mich. 300 Kilometer liegen hinter mir. Es ist Abend und die Müdigkeit meldet sich langsam. Ich knipse den Scheinwerfer an, halte auf St. Claude zu. Warum gerade St. Claude? Als ich vor ein paar Tagen einen groben Entwurf für diese Tour gemacht hatte, lag es irgendwie auf der Route nach Süden, durch eine Bergkette von Genf getrennt. Mein Ziel, der Süden, la Provence, la Méditerranée rückt in weite Ferne. Was will ich dort? Einmal auf den Mont Ventoux fahren oder den Schweiß im Mittelmeer abwaschen, das wäre verlockend. Aber dafür Stunde über Stunde allein auf dem Rad sitzen und zusehen, wie das Vorderrad Meter um Meter Straße frisst?
Es ist längst dunkel, als ich in St. Claude eintreffe. Ich glaube, bei Tageslicht würde mir die Stadt gefallen, wie sie so im Kessel liegt. Sie ist auf zwei Ebenen gebaut, ein Teil ums Flussbett herum, der andere Teil links und rechts darüber, verbunden mit Brücken. Eine Pizza von der Größe eines 20"-Laufrades wärmt den Körper. Aber der Kopf will nicht mitziehen. Beim Essen fällt mein Blick auf den Tacho: exakt 333,33 km - Schnapszahl. Eine Schnapsidee war es, so unvorbereitet loszufahren, nur weil ein paar freie Tage und ein stabiles Hoch noch einmal Lebenssäfte in die Beine zu treiben schienen. Nun gut, mein Tagesziel habe ich erreicht. Der Rest ist Kür.
Halb zehn: ein letztes Mal aufgesessen, das kleine Blatt aufgelegt und hinein in die Dunkelheit, in die Einsamkeit. Dann und wann überholt mich ein Auto. Zuletzt befinde ich mich in einem Stadium der perfekten Gleichgültigkeit. Ich habe den finalen Anstieg vor mir, die Beine fühlen sich leichter an als noch vor einer Stunde, der Sternhimmel verweist auf das Wesentliche. Der Col de la Croix de la Serra. Vollkommene Stille, das Band der Milchstraße über mir. Wo ich steiniges Gelände vermutet hatte, lädt eine Wiese zur Nachtruhe ein. Ich füge mich. Tapse durchs nasse Gras bis zu einem Gebüsch, das mein Rad verdeckt, rolle Biwaksack und Schlafsack aus und schlüpfe in meine kurzlebige Bleibe. Der Untergrund ist weich aber feucht.
Die Erde ist ein schöner Ort, wenn schon leben, dann hier. So oder so ähnlich fährt es mir durch den Kopf, während meine Augen von Sternbild zu Sternbild wandern. Das Mittelmeer liegt genau 1050 Meter unter mir - und zwei bis drei harte Tagesetappen entfernt. Das wäre zu schaffen, wenn der Kopf den Körper zieht. Muss der Körper den Kopf schieben, ist die Lage aussichtslos.
Strecke |
348 km |
Zeit |
14:28 h |
Schnitt |
24,7 km/h |
Höhenmeter |
3170 |